Ibiza: Ein Nest für schrille Vögel

Ibiza ist in diesen Tagen in Wochen wegen des #IbizaVideos bzw. #StracheVideos in aller Munde. Unser PR-Berater Jens Hauschke hat schon vor mehr als zehn Jahren in der HAZ über die Insel geschrieben. Wer Lust hat: Hier ist der Text:

Ibiza ist ein Nest für schräge Vögel. Wer in der schrillen Partyszene auffallen will, muss schon sein Gefieder spreizen. An diesem Wochenende

wird auf der Baleareninsel die Saison eröffnet. Ein Disko-Besuch.

Reif für die Insel

VON JENS HAUSCHKE MIT FOTOS VON NORBERT POGRZEBA

Der beeindruckendste Platz ist eine Terrasse. Weiße Steine. Man hört den Rhythmus aus den Diskotheken. Man riecht das Essen der

Spezialitätenrestaurants. Man spürt das Salz des Meerwassers auf der Haut, den leichten Wind. Und dann dieser Blick. Der Blick auf die

beleuchtete Altstadt .

Man kann vieles, was auf diesem 571 Quadratkilometer großen Fleckchen Erde, der Baleareninsel Ibiza südlich von Mallorca, geschieht, mit

Worten beschreiben. Mit Fotos zeigen. Den Blick von dieser Terrasse nicht. Sie gehört zum „El Divino“, einer Mischung aus Gourmetrestaurant

und Diskothek direkt am Wasser im neuen Hafen Marina Botafoch. Überall liegen Luxusjachten. Und man hört, man riecht, man spürt, man sieht. Man fühlt.

„Wenn ich einmal sterbe, möchte ich unter den Fliesen dieser Terrasse beerdigt werden“, sagt Carsten. Er grinst breit. Seit 2001 fliegt

Carsten, der aus Hannover stammt, jedes Jahr auf die Insel. Er trägt in dieser Nacht Jeans, ein weißes T-Shirt vom kolumbianischen Szenelabel

„De Puta Madre“, weiße Sneaker und einen breiten Gürtel. Dazu hat der 34-Jährige einen Cuba Libre in der Hand.

Wir sind mittendrin. Mitten in der Saison der Schönen, der Verrückten, der Reichen. Der Heteros, der Homos, der Transsexuellen. Musik ohne

Ende, und zwar elektronische Musik, DJ-Musik, Techno. Tanz ohne Ende. Drogen. Sex. Wer glaubt, das alles seien bloß Klischees,

zusammengezimmert von Werbeagenturen und Reiseveranstaltern – wer das glaubt, war noch nie hier. Hier auf der Insel. Kaum einer sagt Ibiza,

die meisten reden nur von „der“ Insel.

Am Sonntag startet die Saison. Wie immer morgens um acht Uhr im Klub „Space“. Mit einer 24-Stunden-Party, die selbst auf Ibiza ihresgleichen

sucht: 51 Diskjockeys legen dort nacheinander und zeitgleich in verschiedenen Räumen und auf der Sonnenterrasse, nur einen Steinwurf von

der weltberühmten Playa d’en Bossa entfernt, ihre Schallplatten auf. Sie mixen die Songs derart ineinander, dass immer wieder neue Lieder

entstehen.

24 Stunden Party

Diese Terrasse ist bei Weitem nicht so schön wie die im „El Divino“, hat aber eine andere Besonderheit: Sie liegt in der Einflugschneise des

Flughafens. Wenn tagsüber die Flieger über die Terrasse donnern, reißen alle Tanzwütigen die Arme hoch und begrüßen die Neuankömmlinge – und es ist vom Flugzeug aus auch wirklich gut zu sehen. An diesem Wochenende zum ersten Mal in diesem Sommer.

Zu den 51 Künstlern an den Schallplattenspielern gehören unter anderem der zigfach preisgekrönte Techno-DJ Carl Coxx und der Münchener Tom Novy. Das ist der DJ, dem als ersten Deutschen die Ehre zuteil wurde, eine „Ministry of Sound“-CD zu mixen. Die Partys auf Ibiza haben immer eigene Namen. „Ministry of Sound“ ist so ein Name, zudem findet diese Party im „Pacha“ statt, dem bekanntesten Klub der Welt. Mit anderen Worten: Es ist eine Art Ritterschlag, eine derartige CD zusammenstellen zu dürfen. Nicht wenige der tausend Gäste, die am Sonntag für Cox, Novy und Co. Eintrittspreise um die 50 Euro bezahlen werden, fliegen bereits am Montag oder Dienstag wieder nach Hause. Sie wollen lediglich die Saisoneröffnung erleben – und werden sich den ganzen Sommer über noch öfter auf den Weg machen.

Das ist Ibiza: schrill und verrückt. Hier ist alles maßlos übertrieben. Aber die Menschen, die dort immer wieder hinfliegen, fühlen sich

dazugehörig. Egal, ob sie in den teuersten Klamotten herumlaufen oder nur mit Jeans und T-Shirt bekleidet sind. Es spielt keine Rolle: „Wer

sich zu wichtig nimmt, wird nicht viel Spaß auf der Insel haben“, sagt Janine aus Dortmund, die in jedem Jahr wiederkommt und im „Mar y Sol“,

der ersten Bar am Anfang der Altstadt, Longdrinks serviert. Wenn am Sonntag die, denen Musik und Lebensgefühl wichtig sind, wieder die Insel

bevölkern, ist Janine schon seit einigen Wochen da.

Am Sonntag beginnt die Zeit der „Opening-Partys“. Das bedeutet: In den sieben großen Vorzeigeklubs, die sich von Ibiza-Stadt im Osten bis nach San Antonio im Westen der Insel erstrecken, feiert an jedem Abend eine Partyreihe ihre Saisoneröffnung. Diese wie auch alle anderen Partys im Sommer werden immer von unterschiedlichen Veranstaltern organisiert, die die Klubs dafür mieten. Man kann also nie sagen, in einem bestimmten Klub werde nur diese oder jene Musikrichtung gespielt – es kommt immer auf den Veranstalter an.

Die „Cream-Party“ – wieder so ein Name für eine Show – steht für Trance. Die Macher der Party buchen jedes Jahr das „Amnesia“, das im vergangenen Jahr von einer Fachzeitschrift zum besten Klub der Welt gewählt worden ist, und kaufen weltweit Diskjockeys ein. Diese DJs fliegen dann den ganzen Sommer über immer für diesen einen Partytag nach Ibiza und kassieren bis zu 30 000 Euro. Pro Nacht, wohlgemerkt. Der Veranstalter ist auch für die Werbung zuständig. An den Stränden, in der Stadt und überall woanders versuchen tagsüber hübsche Frauen und Männer Karten für die verschiedenen Klubs zu verkaufen.

Es gibt praktisch keinen Laden mit nur einer Tanzfläche. Im „Pacha“, das 1973 als erster Klub auf der Insel eröffnete, verstecken sich so viele

kleine, verwinkelte Tanzflächen, dass man sie auch nach dem zweiten oder dritten Besuch meist noch nicht alle gefunden hat. Im „Privilege“, dem größten Klub der Welt, wird sogar für die Musik auf der Toilette pro Abend ein DJ abgestellt.

Die erste Woche der „Opening“-Partys ist für eine Reihe vonPlattenfirmen entscheidend. Das Publikum, das in dieser Zeit auf die

Insel fliegt, will neben dem Partyerlebnis auch hören, was die Starssich im Winter an neuen Songs ausgedacht haben. Die erste Feuertaufe

haben viele der DJs bereits Anfang des Jahres in Miami gehabt. Nunwerden die Songs auf Ibiza gespielt – und dann noch vor Beginn der

Hauptsaison im Juli und August auf CD gepresst. „For you“, das von den„Disco Boys“ remixte Stück von Manfred Mann’s Earth Band, wurde zuerstim „El Divino“ gespielt. „Horney“ von Mousse T. lief im „Pacha“ und im „Space“.

Enrique kennt sie alle. Der Holländer hat vor 27 Jahren mit einem deutschen Partner die Bar „Mambo“ in der Altstadt eröffnet. Die Altstadt

ist der wichtigste Treffpunkt am Abend. Hier beginnt jede Nacht auf der Insel. Hier sieht man die schrillsten Typen – und unfassbar viel nackte

Haut. Ob Mann, Frau oder irgendetwas dazwischen – wer etwas zu zeigen hat, der tut es. Sex spielt eine große Rolle auf Ibiza. Sex liegt immer

in der Luft. „Es geht hier aber nicht darum, nachts jemanden mit nach Hause zu nehmen“, sagt Enrique – Sex ist ein Teil des Spiels, gehört zur

Verpackung: Es geht um die Show. „Die, die hier nur eines im Sinn haben, werden schnell die Lust verlieren.“

Die Karten für die Diskotheken kauft man übrigens auch in der Altstadt, geht shoppen, essen oder setzt sich einfach nur beim Weißwein hin und

redet. Das geht bei Enrique wunderbar. Er kann erzählen, wie die Hippies in den sechziger Jahren die Insel entdeckten. Das milde Klima, die

Natur, die Entfernung vom von General Franco beherrschten Festland und vor allem die große Toleranz der Inselbewohner soll Ibiza seinerzeit zu

einem wahren Paradies für Aussteiger gemacht haben. Es dauerte dann auch nicht lange, bis sich das über die spanischen Grenzen hinaus verbreitet hatte und die ersten Zuwanderer aus anderen europäischen Ländern und vor allem aus den USA auftauchten. Je mehr Hippies auf die Insel kamen, desto mehr ging der Ruf des Paradieses im Mittelmeer um die Welt. „Das Faszinierende ist, dass die Hippie-Generation in die Techno-Generation übergegangen ist“, sagt Enrique. Die Insel habe dadurch nicht etwa an Zauber verloren. „Im Gegenteil“, sagt Enrique. Viele auf der Insel hätten vermutet, dass das Ende der Hippie-Zeit auch das Ende des Mythos Ibiza bedeuten müsse. „Hier haben sich zwei Kulturen, die mit Aussteigen und Freiheitsgedanken zu tun haben, vermischt“, sagt Enrique. Was die Spanier auch deshalb freut, weil 97 Prozent des Umsatzes auf der Insel durch Tourismus gemacht wird.

Wie viel Geld mit Drogen umgesetzt wird, darüber gibt es kein Statistiken. Offiziell sagt die Regierung, man gehe scharf dagegen vor.

In Wirklichkeit kann man hier an jeder Ecke alles kaufen. Und Repressalien gegen Dealer oder Kunden sind nicht zu beobachten.

Der Drogenkonsum nimmt zu. Vor allem macht sich das aber in jenen Ecken bemerkbar, die vom Massentourismus bestimmt werden. Beispielsweise der Strand „Bora Bora“ an der Playa d’en Bossa. Dieser Bereich von Ibiza hat ein Ballermann-Image bekommen. Am Abschnitt „Bora Bora“ haben über Jahre hinweg tagsüber legendäre Partys stattgefunden – nun ist es nur noch laut, billig, völlig überteuert und dreckig. „Seit die Privatsender in Deutschland mehrfach Reportagen von dort gezeigt haben, ist es mit dem Niveau heruntergegangen“, sagt Enrique. Das Publikum, das derartige Sendungen schaut, sei angezogen worden. „Und denen ist der eigene Stil oder gute Musik oftmals unwichtig“, sagt er.

Der eigene Stil: Die Altstadt ist ein großer, einzigartiger Laufsteg der Urlauber. Viele, die abends unterwegs sind, wollen gut aussehen – aber

die Menschen haben deshalb nicht zwangsweise teure Kleidung an. „Es geht einfach darum, zu zeigen, dass man sich auf die Nacht und auf spannende Menschen freut“, sagt Enrique .

Eben diese Erfahrung hat auch Thomas Anders gemacht. Der Sänger von Modern Talking lebt seit einigen Jahren auf der Insel. „Mallorca ist im

Vergleich zu Ibiza furchtbar anstrengend“, sagt er, „dort fühlt man sich wie auf dem Präsentierteller.“ Für seinen ehemaligen Partner Dieter

Bohlen wäre daher Ibiza nichts. „Er würde vermutlich eine Sinnkrise kriegen, weil keiner hinschaut und ihn keiner beachtet, wenn er kommt.“

Musik bis zum Morgen, Tanz bis (fast) zur Erschöpfung, sehen und gesehen werden – so geht die Nacht zu Ende. Hinter den Gemäuern der Altstadt blinzelt die Sonne hervor, erreicht auch die Terrasse des „El Divino“. Einige Klubbesucher gehen jetzt zurück ins Hotel. Andere setzen sich noch irgendwo an den Strand. Der Ibiza-Profi aber fährt jetzt mit dem Taxi – übrigens überraschend günstig – zu einem der zahlreichen Klubs, die erst morgens aufmachen und tagsüber geöffnet haben. Dort legt man sich in den Sand, in eine Hängematte oder sonst wo hin. Man hört die nun viel ruhigere, entspanntere Musik. Und man genießt es, dass das Leben so schön ist. Und alles andere als dieser Moment so unwichtig.

(Aus der HAZ vom 02.06.2007)